„Mache ich zu viel mit meinen Händen?“ – Eine Frage, die mir regelmäßig gestellt wird. Und in ihr steckt oft die Idee, man müsse seine Gestik regulieren.
Hände dürfen nicht natürlich fließen, nicht zu große Bewegungen ausführen und stets bedacht eingesetzt werden. Diese Idee der „gezähmten Geste“, wie Cornelia Müller sie nennt, hat eine lange Tradition und reicht bis in die Schriften antiker Rhetoriker zurück.
Die gezähmte Geste: Eine jahrhundertealte Idee
Quintilian erwähnt in seinem rhetorischen Standardwerk, dass Hände nicht über den Kopf gehen dürfen, nicht zu weit nach vorn oder zur Seite. Bei weit ausholendem Arm entblößt man die Seite des Körpers (die Toga war an der Seite offen) oder es wird gefährlich, neben der Person zu stehen (in der Agora war der Platz begrenzt). All dies, so Quintilian, lässt den ungeübten Redner erkennen, denn die Geste wird so alltäglich und schwächt die Mitteilungskraft der Gestik. Ihm geht es darum, die Geste und den Körper ausschließlich als Teil der öffentlichen Rede zu sehen. Und dieser Körper und damit auch die „öffentliche Geste muss sich diszipliniert und kontrolliert in einem klar begrenzten Raum bewegen.“ (Müller, S.6).
Diese Idee der Zähmung der Gestik zieht sich von da an durch die Jahrhunderte. Im Mittelalter sind ruhige und bedächtige Bewegungen Ausdruck von Macht und Erhabenheit. In der höfischen Kultur lebt diese Idee weiter und es kommt die Vorstellung auf, dass man mit Mimik und Gestik den Gesprächspartner über die eigentlichen Ziele im Dunkeln lassen kann und die eigene Intention verdecken kann. Und später nimmt auch Freiherr von Knigge dieses Gebot auf und stellt heraus, dass sich die feine Erziehung in gemäßigten und zurückhaltenden Bewegungen von Kopf, Arm und anderen Gliedmaßen zeige und man sich damit vom einfachen Volk abhebe.
Letztlich gipfelt diese Vorstellung in unserem Sprichwort, das wir auch heute noch finden: „Man redet nicht mit Händen und Füßen“ oder in dem Gebot „fuchtel nicht so mit deinen Händen rum.“
Und auch mit dem Konzept der „nonverbalen Kommunikation“ werden Gesten weiterhin unnatürlich begrenzt. Nun auf die Beziehungsaspekte und Emotionen. Sprache, so die Vorstellung, ist für die Übermittlung von Sachinhalten zuständig. Gestik und andere körperliche Ausdrucksformen für Emotionen. Eine Idee, die auch noch heute sehr verlockend ist. Denn Emotion, Affekte, Stimmung und Persönlichkeit lassen sich vermeintlich aus dem körperlichen Ausdruck ableiten. Etwas, was wir heute aus zahlreicher Forschung wissen, nicht so möglich ist. Aber die Idee lebt weiter und führt dazu, dass wir uns heute fragen: Mache ich zu viel mit meinen Händen?
Was die Gestenforschung wirklich zeigt
Schaut man aber mit der Brille der Gestenforschung auf unsere Hände und auf das, was sie tun, wenn wir sprechen, so wird schnell klar: Nein, wir machen nicht zu viel. Gesten, die im natürlichen Fluss mit dem Gesagten entstehen, erfüllen immer eine Funktion. Sie visualisieren, strukturieren und entlasten das Denken.
Anzahl und Häufigkeit von Gesten können variieren: je nach Redegegenstand, Kontext und Gesprächspartner und ja, auch zu einem gewissen Teil nach kulturellem und sprachlichem Umfeld. (Italienische Sprecherinnen zum Beispiel verwenden mehr pragmatische Gesten, um z.B. etwas als offensichtlich zu kennzeichnen. Schwedinnen nutzen hingegen mehr referentielle Gesten, die konkrete Objekte oder Handlungen darstellen.)
Egal ob Experiment, Beobachtung oder Korpusstudie: Forschung zeigt ganz eindeutig, dass Gestik untrennbar zum Sprechen dazugehört und für unseren sprachlichen Ausdruck und unsere Rede unverzichtbar ist. Experimente zeigen sogar, dass der Redefluss zusammenbricht, wenn wir unsere Hände nicht bewegen dürfen. Wir kommen ins Stocken, suchen nach Worten und produzieren mehr ähms und ähs. In diesem Sinne gibt es also eigentlich kein ‚zu viel‘. Gestik und Rede bilden immer eine Einheit: inhaltlich und bei dem, was sie erreichen wollen.
Wann Gestik tatsächlich ‚zu viel‘ wird
Ein ‚zu viel an Gesten‘ kann es aber durchaus geben. Weniger durch die Anzahl oder die Art der Gesten: Reden wir uns in Rage, zeigt sich das in der Stimme (lauter, schneller) und auch in der Gestik (größer und schneller). Wir hören und sehen also die Aufregung. In dem Moment haben wir zu viel Gestik, genauso wie wir zu viel Stimme haben.
Dann geht es darum, diesen Ausdruck zu mäßigen. Aber nicht, indem wir einfach weniger gestikulieren, sondern nur, indem wir Kopf und Körper in Einklang bringen. Also innerlich ruhiger werden, unsere Aufregung in den Griff bekommen – durch Atmung zum Beispiel – und so dann auch Stimme und unsere Hände zur Ruhe bringen.
Fazit
Vertraue deinen Händen. Sie wissen, was sie tun – wenn du sie lässt. Und wenn du das Gefühl hast, deine Gestik arbeitet gegen dich statt für dich? Dann liegt das Problem meist woanders: in der inneren Aufregung, nicht in den Händen selbst.
Referenzen:
Müller, C. (2002). Eine kleine Kulturgeschichte der Gestenbetrachtung. Psychotherapie und Sozialforschung, 4(1), 3-29.
Graziano, M., & Gullberg, M. (2024). Providing evidence for a well-worn stereotype: Italians and Swedes do gesture differently. Frontiers in Communication, 9, 1314120.
